Das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie
Was wir tun
Unsere Forschung und Lehre am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie gilt den gelebten Kulturen des Alltags.
Wir interessieren uns für Lebensweisen und Alltagspraxen in der alltäglichen Kommunikation, in städtischen Räumen, Medien und digitalen Umgebungen. Wir fragen nach dem ganzen Menschen in seinen sozialen, kulturellen und historischen Bezügen. Wir folgen Beziehungen, Erzählungen, Lebensgeschichten und kollektiven Gedächtnissen. Wir erkunden Welt- und Selbstsichten in Sprache und Bildern, Objekten und Materialitäten, Körperlichkeit und Emotionalität.
Als neugieriges Fach und Institut beschäftigen wir uns mit dem „Wie“ einer reflexiven Ethnografie und Kulturanalyse. Ausgehend von der empirischen Erfahrung in wechselnden Forschungsfeldern folgen wir dialogischen Prozessen des Fragens und Verstehens. Dabei nähern wir uns kulturellen Sinnstiftungen im Alltag mit Zugängen der Visuellen Anthropologie, der Phänomenologie, Ethnopsychoanalyse und Kultursemiotik an. Historisch-archivalische Methoden der Historischen Anthropologie erhellen das Geworden-Sein des Gegenwärtigen. Einen besonderen Stellenwert besitzt die Kultur- und Wissensvermittlung in Museum, Ausstellung, Medien und vielen anderen Praxis- und Berufsfeldern.
Seit den 1980er Jahren meldet sich das Institut mit Ansätzen und Projekten einer sozial engagierten und gesellschaftlich verantwortlichen Kulturwissenschaft zu Wort, in der Stadt Graz, in Science-to-Public-Kooperationen sowie in internationalen und interdisziplinären Forschungslandschaften. Aus politisch-anthropologischer Perspektive werden dabei stets die Machtverhältnisse im menschlichen Zusammenleben und in einer sich wandelnden Gesellschaft mitgedacht: sei es in Themen von Migration, Arbeit und Prekarität, in dekolonialen und gouvernementalen Forschungszugängen, im Sichtbarmachen von Klasse und Geschlecht, oder im Entziffern verinnerlichter Zwänge und Ideologien.
Als weiteren Schwerpunkt reflektieren wir, was wissens- und wissenschaftsgeschichtlich unser Forschen und Denken prägt und welchen Weg unser Fach, von der Volkskunde kommend, geht und gegangen ist.
Woher wir kommen
Unser heutiges Fach firmiert im deutschsprachigen Raum und verschiedenen europäischen Ländern u.a. unter den Bezeichnungen Europäische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft und Kulturanthropologie, sowie, vor allem in nicht-universitären Zusammenhängen, unter dem Herkunftsnamen Volkskunde.
Die Volkskunde etablierte sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als bürgerliche Wissenschaft der Kultur des ‚einfachen Volks‘, geprägt von romantisierendem Idealismus und Modernisierungskritik im Zuge der Industrialisierung. Parallel zur Ethnologie (Völkerkunde) als Wissenschaft des kolonialen Fremden und Exotischen richtete sie einen kanonischen Blick auf die bäuerlichen ‚Anderen‘ der eigenen Kultur.
Im Unterschied zum deutschen und schweizerischen Raum entwickelte sich die Volkskunde unter den vielsprachigen und multikulturellen Rahmenbedingungen des habsburgischen Österreichs auch in Richtung auf eine Ethnologia Europaea. Dabei teilte sie mit dem anthropologischen Schwesterfach bis in die 1930er Jahre gegenläufige Tendenzen einer universalistischen Kulturwissenschaft einerseits, völkisch-nationalistischer Engführung andererseits.
Der aktiven Zuarbeit des Faches zur nationalsozialistischen Volkstumsideologie folgte in den Nachkriegsjahren der Rückzug auf historische Methoden und auf ein deskriptiv-dokumentarisches Sammeln und Bewahren.
Die Umbruchszeit der 1960er und 1970er Jahre brachte die Umorientierung und Öffnung der Volkskunde zur Alltags- und Massenkultur der ‚Vielen‘ in einer industrialisierten Gesellschaft. Dieser Paradigmenwechsel bedeutete, erstens, die Definition eines ‚weiten Kulturbegriffs‘ und das Aufbrechen der geisteswissenschaftlichen Priorisierung hochkultureller, künstlerischer und literarischer Ausdrucksformen. Zweitens entwickelte die Volkskunde etwa in der Arbeiterkulturforschung ihren wissenschaftlichen Blickwechsel auf marginalisierte, als ‚kulturlos‘ betrachtete Unterschichten weiter. Kultur wurde und wird in ihrer Abhängigkeit von ökonomischen Bedingungen als die ‚andere Seite des Sozialen‘ begriffen. Drittens setzte eine intensive Auseinandersetzung mit der faschistischen bzw. nationalsozialistischen Volkskunde ein, die in der Gegenwart neue Brisanz erhält.
Namensfragen
Mit der Öffnung des Faches Volkskunde hin zu einer zeitgemäßen Alltagskulturwissenschaft gingen Änderungen der Fachbezeichnung an den bisherigen Instituten für Volkskunde einher. Das heutige Institut ist mit dem Fachnamen Kulturanthropologie gut eingeführt. Es unterstreicht die Zugehörigkeit zu einer breiten internationalen Forschungsgemeinschaft zum Studium des Menschen als kulturelles Wesen.
Die Bezeichnung Europäische Ethnologie, die seit 2008 für die Studien am Institut gilt, betont eine ethnografische Perspektive im Sinne einer relational kontextualisierenden und intersubjektiv reflektierten Wissensproduktion. Der Name bringt zugleich eine europäische Perspektivierung auf den ‚eigenen‘ Alltag und eine kritische Problematisierung ethnozentrischer und kulturalistischer Prämissen zum Ausdruck, steht aber auch für Forschungsschwerpunkte im (süd)osteuropäischen, britischen und mediterranen Raum.
Ausgangspunkt der Namensdiskussionen im Fach war 1971 die Neubenennung des „Ludwig-Uhland-Instituts für Empirische Kulturwissenschaft“ an der Universität Tübingen. Die Fachbezeichnung „Empirische Kulturwissenschaft“, die ab Wintersemester 2024/25 zusammen mit dem Schwerpunkt „Politische Anthropologie“ für das Masterstudium titelgebend ist, betont die empirisch-ethnografische Ausrichtung eines Querschnittfachs mit Bezügen zur historischen, germanistischen, medienwissenschaftlichen und kultursoziologischen Forschung.
Der Wunsch nach Vereinheitlichung und besserer Wiedererkennbarkeit als Fach führte ab 2022 zur Umbenennung der bisherigen nationalen Dachverbände der Volkskunde. Sie nennen sich heute „Österreichische Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft und Volkskunde“ (ÖGEKW), „Empirische Kulturwissenschaft Schweiz“ (EKWS) und „Deutsche Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft“ (DGEKW).