Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin
10.-11. Juni 2016
Angesichts sich überschneidender, uneindeutiger Praxen sind die diskursiven, in den Wissenschaften mitproduzierten Grenzen zwischen Mobilität und Immobilität/Sesshaftigkeit, und auch zwischen einzelnen Kategorien von Mobilität, wie Tourismus und Migration, längst in Bewegung: fixe Unterscheidungen zwischen Tourist_innen, Reisenden, Migrant_innen, Expatriates, Geflüchteten, Einheimischen, Ansässigen lassen sich nicht (mehr) ohne weiteres treffen. Dies stellt die damit befassten und selbst an diesen Grenzen ausgerichteten Forschungsdomänen, wie Tourismus- und Migrationsforschung, vor die Aufgabe, ihre eigenen Definitionen und Klassifikationen, ihre Forschungsdesigns, Feldzuschnitte und Subjektkategorien kritisch zu reflektieren und zu revidieren.
Bei dieser Revision ist es jedoch keinesfalls mit einer bloßen Aufhebung der vorgängigen Unterscheidungen in einem nun alle scheinbar gleich behandelnden Feld der Mobilitäten getan. Denn trotz ihnen widersprechender, ihnen entgehender Praxen bleiben die Klassifikationen in grenzpolitischen, gesellschaftlichen Diskursen weiter einhegend, abgrenzend und hierarchisierend wirksam: Als Tourist_in wahrgenommen und behandelt zu werden, oder als Geflüchtete_r, als Expatriate, Migrant_in oder Einheimische_r impliziert und erzeugt unterschiedliche soziale und politische Subjektpositionen. Ebenso wird auch innerhalb dieser Kategorien eher mehr als weniger unterschieden: vor allem nach Herkünften, die, sofern sie mit dem mediterranen oder globalen Süden, dem postsozi alistischen oder globalen Osten assoziiert werden, in allen Subjektkatego-rien besonders markiert und oft als problematischer wahrgenommen werden als solche, die einem europäischen und globalen Norden/Westen zugeordnet werden. Dabei kommt es zu wirkmächtigen Verschiebungen, durch die etwa Migrant_innen zu Mus‐lim_innen werden oder der Tourist von seiner Rolle als Identifikationsfigur der Moderne zum Feindbild im urbanen Gentrifizierungsdiskurs mutiert. Statt einer Einebnung der Grenzen zwischen "Mobilen" und "Ansässigen" formiert sich ein immer differenzierteres Klassifikationsregime, das grundlegende Unterscheidungen gesellschaftlicher Subjekte vornimmt.
Der kultur- und sozialwissenschaftliche Mobility Turn erfordert daher eine paradoxe Bewegung. Während er auf die Überwindung klassifizierender Grenzen fokussiert, die den Praxen mobil(isiert)er Subjekte nicht mehr standhalten, muss der Blick der Forschung gleichzeitig auf die diskursive Vervielfältigung solcher Grenzziehungen gerichtet sein. In den Mittelpunkt der Forschung rückt dann die Frage, dass und wie diese klassifizierenden, grenzpolitischen Markierungen zum Gegenstand kultureller, sozialer und politischer Kämpfe werden: zwischen "Mehrheiten" und "Minderheiten", um den Erhalt oder die Teilung von Privilegien, um Partizipation und Anerkennung, um die Trans/Nationalisierung, die Trans/Europäisierung, die Kosmopolitisierung von Gesellschaft. Mobilität ist damit keine Alle umfassende Kategorie, sondern das Feld der Auseinandersetzung, das Alle betrifft, in und an dem die Grenzen der nationalstaatlich verfassten Gesellschaft mobilisiert und verhandelt werden.
Die 11. Tagung der Kommission Tourismusforschung in der dgv widmet sich den Klassifikationen von Mobilität und ihren Mobilisierungen in mehrfacher Hinsicht. Sie geht den Genealogien dieser Klassifikationen und ihrer Bedeutung als epistemische Politiken historisch nach; sie verfolgt ihre Verschiebungen und Mobilisierungen in der Gegenwart; sie beleuchtet aktuelle Auseinandersetzungen und Schauplätze in unterschiedlichen trans/nationalen Szenarien als zentrale Orte der Neuverhandlung von Gesellschaft. Dabei geht es immer auch um den jeweiligen wissenschaftlichen, und insbesondere den kulturanthropologischen, europäisch-ethnologischen Beitrag zu einer De/Konstruktion zentraler Klassifikationen, wie der/die Migrant_in, der/die Tourist_in, in den beteiligten Subdiziplinen der Migrations- und der Tourismusforschung. Diese Arbeiten an Begriffen und Konzepten sollen auch auf ihre Auswirkungen auf andere Forschungsfelder und auf gesellschaftliche Diskurse sowie auf ihre eigenen Referenzen hin befragt werden.
Die Tagung verfolgt damit die Frage weiter, ob und wie die Tourismusforschung in einen weiteren Kontext der Forschung zu Mobilitäten und Grenzen gestellt und darin mit ihren Fragen und Ansätzen, im Verbund mit Fragen und Ansätzen der Migrationsforschung, in neuer Weise: nämlich als gesellschaftswissenschaftliche Querschnittsperspektive zur Geltung gebracht werden kann.
Die Tagung lädt zu Beiträgen ein, die dieser Fragestellung in unterschiedlicher Weise Rechnung tragen, insbesondere (aber nicht nur) in folgenden Themenbereichen:
- Mobilitäten erfassen: Genealogien von Subjektkategorien im Grenzregime
- Das moderne Subjekt in Bewegung: The Tourist revisited
- Umkämpfte Politiken der Klassifikation - Transversale Bewegungen: in Wissenschaft und Gesellschaft
Abstracts:
Wir bitten Interessierte und insbesondere auch NachwuchswissenschaftlerInnen um Einsendung eines halbseitigen Abstracts in Deutsch oder Englisch. Es sollte sich um neue und unveröffentlichte Beiträge handeln.
Einsendungen werden gemeinsam mit einem kurzen CV bis 1. Juni 2015 unter dem Stichwort "Tourismus Tagung 2016" erbeten an:
Prof. Dr. Regina Römhild, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität zu Berlin, Mohrenstraße 41, 10117 Berlin Regina.roemhild(at)hu-berlin.de
Rückmeldungen erfolgen bis Anfang Juli 2015.
Regina Römhild, Johanna Rolshoven im April 2015